Last Updated on 30/03/2021 by Lea
Gastartikel von Dario Jürgens
Im Norden tropisch-heißes Flachland, im Süden die mächtigen und kargen Anden. Gerade noch schaute ein Kaiman grimmig aus dem Wasser, nun gleitet ein riesiger Andenkondor durch die Lüfte über dem zerklüffteten Hochland. Wer nach Bolivien reist, sucht unberührte, vom Menschen scheinbar unentdeckte Natur – und findet sie.
Rundreise durch Bolivien
Die Straße ist so breit wie der Bus, in dem wir sitzen. Rechts die Felswand, links der Abgrund. Achtzehn Stunden dauert die Fahrt von La Paz in den tropischen Regenwald Boliviens. Fünf Stunden davon verbringen wir auf der carretera de la muerta – der Straße des Todes. Sie ist vom tagelangen Regen aufgeweicht. In einer Kurve kommt uns ein LKW entgegen. Die Kurven sind etwas breiter, so dass die beiden Fahrzeuge geradeso aneinander vorbeikommen. Auf dieser Straße gilt Linksverkehr. Der Bus muss also ganz nah an den Abgrund. Wir sind froh, auf der Felsseite zu sitzen und können den Blick in die Tiefe nur erahnen.
Auf der Yunga-Straße
Die Yunga-Straße, wie die Straße offiziell heißt, gilt, gemessen an der Anzahl der Verkehrstoten, als die gefährlichste Straße der Welt. Inzwischen wird sie nur noch befahren, wenn die neue und sicherere Straße durch Blockaden von Demonstranten unpassierbar ist – so wie heute. So beängstigend diese Fahrt auch sein mag, die Landschaft, die sich uns hierbei präsentiert ist überwältigend. Wo uns eben noch das karge und kalte Hochland umgab, sprießen nun tropische Pflanzen. Die ersten Moskitos fliegen in den Bus. Über 4.000 Höhenmeter bewältigt der Bus auf dieser Fahrt, die nicht das letzte Abenteuer auf unserer Reise durch Bolivien gewesen sein sollte.
In Rurrenabaque
Wir erreichen Rurrenabaque. Das kleine Städtchen liegt am Rande des Regenwalds und der Pampa – einem tropischen Überschwemmungsgebiet. In Rurrenabaque warten unzählige Touranbieter auf Touristen, die die Artenvielfalt des tropischen Tieflands einmal hautnah erleben möchten. Wir werden mit dem Motorrad-Taxi direkt zum Touranbieter gefahren. Während man in anderen Städten Boliviens vor allem Autos umherfahren sieht, gilt hier das Motorrad als typischstes Fortbewegungsmittel. Noch am gleichen Tag geht es mit dem Jeep weiter in die Pampa.
Durch die Pampa
Nach fünf Stunden erreichen wir den Fluss, auf dem wir uns durch dieses Gebiet bewegen werden. Maicu, der uns die nächsten Tage durch die Pampa führen wird, erwartet uns schon. Er ist mit Tank-Top und Militärhose bekleidet, trägt eine Machete bei sich und seine Oberarme machen den Eindruck, als müsse man in seiner Gegenwart keine Angst vor wild gewordenen Kaimanen haben. Auf der Bootsfahrt zur Unterkunft erzählt er uns, dass er hier ganz in der Nähe geboren worden sei.
Der Mann kennt sich wohl mit allem was einem hier begegnen kann aus. Und das ist eine ganze Menge. Am Rande des sich durch die flache Landschaft schlängelnden Flusses sitzen Paradiesvögel bei der Brut, ein prächtiger Seeadler kreuzt unseren Weg. Von den Bäumen aus beobachten uns verschiedene Affen. In einer fernen Baumkrone hängt ein Faultier. Durch seine braun-graue Färbung ist es kaum zu erkennen. Als wir näher kommen verzieht sich das Tier, das doch als so träge charakterisiert wird, ziemlich flink tiefer in die Baumkrone. Weniger scheu sind die kleinen Bolivianischen Totenkopfaffen. Sie kommen ganz nah an das Boot heran, als wir uns dem Baum nähern.
Im Auge des Kaimans
Nur einen Moment später begegnet uns der König des Wassers – die bedrohlich schimmernden Augen eines Kaimans blitzen knallorange an der Oberfläche Er ist dem Boot ganz nahe. Eine Mitreisende fragt, ob uns der Kaiman gefährlich werden kann. Maicu lächelt und beruhigt uns. Kaimane seien eigentlich ganz friedliche Tiere, sofern man sie in ihrem Lebensraum in Ruhe lässt. Er macht den Motor aus, um das Tier nicht zu beunruhigen.
Wir erreichen die Lodge. Hier werden wir die Nacht verbringen. Nachdem wir unser Gepäck in den kleinen Schlafhütten, die auf Stelzen gebaut sind, um vor den regelmäßigen Überschwemmungen geschützt zu sein, verstaut und einen kleinen Snack zu uns genommen haben, geht es noch einmal los. Im Licht unserer Taschenlampen sehen wir die Augen einiger Kaimane leuchten. „Ojos como volantinos“, sagt Maicu – Augen wie Drachen.
In Sucre
Nach drei Tagen fliegen wir weiter nach Sucre – die konstitionelle Hauptstadt Boliviens. Dort wird uns ein Ort erwarten, wie er unterschiedlicher vom eben verlassenen Rurrenabaque nicht sein könnte. Unter uns werden die Berge bereits höher und kahler und die ersten Schneekuppen sind in der Ferne zu erkennen. Schon jetzt, am fünften Tag unserer Reise, haben wir das Gefühl, in einem der vielseitigsten Länder dieser Erde zu sein – in einem Land der Extreme.
Dabei wurde Bolivien gerade noch ganz anders betitelt: Im Rahmen des “Travel & Tourism Competitiveness Report” wurde Bolivien zum unfreundlichsten Reiseland der Welt ernannt. Dabei wurden Bereiche wie die Infrastruktur, die Wirtschaft und die Sicherheit auf ihre Touristen- Freundlichkeit getestet. Natürlich, der Zustand der Straßen in Bolivien ist schlecht. Nur etwa 3.000 Kilometer sind überhaupt asphaltiert. Bei dem Rest handelt es sich um Schotterpisten, die oft unpassierbar sind. Dazu sind sie häufig von Demonstranten blockiert, die mithilfe von Straßenblockaden auf Missstände aufmerksam machen wollen. Und auch sonst bleibt nicht verdeckt, dass es sich bei Bolivien noch immer um das ärmste Land Südamerikas handelt. Nur eines wird beim genannten Report außer Acht gelassen: Bolivien ist ein Land für Abenteuerreisende und für Menschen, die eine vergleichsweise unberührte Natur und einzigartige Kultur kennenlernen möchten. Wer nach Bolivien geht, möchte keinen Luxusurlaub machen, kein europäisches Frühstück essen und nicht auf Shopping-Tour gehen.
Wir landen in Sucre. Die Stadt, die früher wegen ihres Reichtums an Silber La Plata (dt. Silber bzw. Reichtum) hieß, blendet uns förmlich mit ihren weißen Gebäuden. Die Altstadt der Ciudad Blanca (dt. weiße Stadt) ist geprägt vom Baustil der Kolonialzeit und aufgrund des gut erhaltenen Zustands der alten Bauwerke von der UNESCO zum Weltkulturerbe ernannt worden. Ein Stadtrundgang durch die wohl schönste Stadt Boliviens beginnt (wie in fast jeder bolivianischen Stadt) an der Plaza Principal. Schräg gegenüber der Kathedrale steht die Casa de la Liberdad. Hier wurde 1825 die Unabhängigkeit Boliviens von den Spaniern erklärt und die Stadt zu Ehren des Freiheitskämpfers Antonio José de Sucre umbenannt. Von der Plaza Principal schlendern wir durch die schachbrettförmig angeordneten Straßen hinauf zum 1601 erbauten Franziskanerkloster la Recoleta. Bei einem Jugo (ein Fruchtsaftgetränk) genießen wir den unglaublichen Ausblick auf die Stadt.
Neben uns fliegt ein Kolibri von Blüte zu Blüte, um etwas vom Nektar der gelben Rosenblüten zu sammeln. Hier in Sucre ist es für die Höhe (rund 2.800 Meter) angenehm warm und wir entschließen uns noch einige Tage in dieser wunderschönen Stadt zu bleiben. Bevor wir weiterreisen, besuchen wir noch eine der vielen Chocolaterias, für die Sucre berühmt ist. Wir entscheiden uns für einige Tafeln mit Quinoa und Amarant. Die Samen beider Pflanzen gelten im Raum der Anden als Grundnahrungsmittel und werden sowohl süß, als auch salzig (zum Beispiel mit Gemüse und Fleisch) gegessen.
Auf nach Potosí
Nur vier Stunden Busfahrt entfernt liegt Potosí. Die früher angeblich reichste Stadt der Welt, ist heute verarmt und hat innerhalb Boliviens stark an Bedeutung verloren. Der Cerro Rico, ein kleiner Hügel direkt an der Stadtgrenze, der den Spaniern zur Kolonialzeit enormen Reichtum verschafft hat, ist der Grund, warum Potosí einst ein Mekka für unersättliche Kolonialherren war. Die Bolivianer hatten von diesem Reichtum nichts. Tausende Bergarbeiter starben in den engen, feuchten Schächten des Berges. Auch heute sind die Sicherheitsvorkehrungen im Berg noch immer katastrophal.
Obwohl Kinderarbeit in Bolivien verboten ist, arbeiten im Cerro Rico viele Jugendliche. Anders können die meisten Familien in Potosí nicht überleben. Wir entschließen uns, die Bergarbeiter zu besuchen. Ein kleiner Bus bringt uns hinauf zum Bergwerk. Auf der Hälfte der Strecke hält der Bus und wir werden gebeten, Koka-Blätter und Dynamit für die Bergarbeiter zu kaufen. Dynamit ist hier, und nur hier, frei verkäuflich. Wir kaufen jeder eine Stange und einen Beutel mit Koka-Blättern. Die kleinen Blätter, die anders als das aus ihnen gewonnene Kokain keine Suchtstoffe enthalten, aber eine leicht aufputschende Wirkung haben, helfen den Arbeitern bei ihrem knochenharten Job.
Am Schacht angekommen treffen wir Franco. Das Gesicht des jungen Mannes ist von seiner Arbeit gezeichnet. Erfreut über unser Gastgeschenk, führt er uns in den Stollen. Die Wange voller Koka-Blätter erzählt er uns, dass in diesem Berg kaum noch Silber zu finden sei. Auch Zinn und Kupfer bauten die Arbeiter hier nur noch selten ab. Der Berg, durchlöchert wie ein Schweizer Käse, sei eigentlich vollkommen unwirtschaftlich, erzählt uns Franco. Wir hören einen dumpfen Knall. Nicht weit von uns wurde wohl gerade eine Sprengung vorgenommen. Franco, belustigt von den verschreckten Deutschen, führt uns zum Tio. Er, oder besser gesagt sein großes steinernes Abbild, steht in einer größeren Höhle. Der Tio (dt. Onkel) ist eine Gottheit der Andenbewohner, die die Bergarbeiter beschützen soll. Wir werden gebeten einige Koka-Blätter an sie zu übergeben. Franco zündet sich eine Zigarette an. Nach einem Zug steckt er die Zigarette der Figur Tios in den Mund und sagt etwas auf Quechua, einer Sprache der indigenen Bevölkerung Boliviens. Nach der kurzen Zeremonie verlassen wir die Höhle und gehen wieder nach draußen.
Salar de Uyuni
Von Potosí aus fahren wir zum Salar de Uyuni. Der mit über 10.000 Quadratkilometern größte Salzsee der Welt, auf dem Satellitenbild als riesiger weißer Fleck erkennbar, ist unsere nächste Etappe. In Uyuni treffen wir Guery. Er wird uns die nächsten drei Tage zuerst über die riesige Salzwüste und dann über Stock und Stein des Hochgebirges fahren. Guery belädt gerade das Dach seines Jeeps. „Sicher ist sicher“, sagt er, als er die unzähligen Wasserkanister verstaut. Am nächsten Morgen geht es los in Richtung Salar de Uyuni.
Mit dem Jeep über einen See zu fahren, ist ein verrücktes Gefühl. Es ist kaum vorstellbar, dass unter uns noch irgendwo Wasser sein soll. „72 Meter tief ist der See hier“, sagt Guery, als wir fast in der Mitte angekommen sind – 70 Kilometer nachdem wir das Ufer des Sees verlassen haben. Kurz darauf erreichen wir die Isla Incahuasi. Die kleine Insel ist übersät mit hunderten riesigen Kakteen (der größte Kaktus ist knapp 20 Meter hoch), die bis zu 1.200 Jahre alt sind. Der Blick von der Spitze der Insel ist atemberaubend. In weiter Ferne ragen die höchsten Gipfel des Altiplanos in den Himmel. Ohne Sonnenbrille hält man es hier kaum aus. Zu hell sind die Unmengen an Salz um einen herum. Guery möchte weiter.
Noch vor Anbruch der Dunkelheit müssen wir am Hotel auf der anderen Seite des Sees ankommen. Nachts ist es auf dem See nicht nur sehr kalt, vor allem fällt die Orientierung dann selbst erfahrenen Guides wie Guery schwer. Das Hotel, in dem wir heute übernachten, ist – wie könnte es anders sein – aus Salz. Der Boden, die Wände, die Tische und Stühle im Aufenthaltsraum und natürlich auch die Betten sind aus Salzklötzen des Salar de Uyuni gebaut. Einige Nächte vorher haben wir noch in der lauten Pampa übernachtet. Die Affen haben gekreischt, die Moskitos gesurrt. Hier ist es nun absolut still. Nur die Fensterläden knarren ab und zu vom starken Wind, der hier, direkt am Salzsee, auf wenig Widerstand trifft.
Kondor in Sicht?
Am nächsten Morgen setzen wir unsere Tour fort. Immer weiter arbeitet sich der Jeep nun die Berge hinauf. Wir durchfahren ein schier unwirkliches und karges Hochgebirgspanorama. Die Unberührtheit der Natur macht diesen Flecken der Erde zu einem ganz besonderen. Tiere sehen wir hier nicht viele. Nur einige Alpakas und Vicuñas, beides Lama-Arten, kreuzen unseren Weg und am Himmel kreisen hin und wieder einige Greifvögel. Als wir etwas später noch einmal in die Luft schauen, entdecken wir ihn: Einen Andenkondor. Der mächtige Vogel ist der nach der Flügelspannweite – über drei Meter – größte der Welt. In den belebteren Andenregionen sieht man den Andenkondor nur noch selten. Hier, weit abgelegen, kann man ihn mit etwas Glück noch in seinem ursprünglichen Lebensraum entdecken.
Weniger groß, aber nicht weniger prachtvoll, sind die nächsten Vögel, auf die wir treffen. Wir erreichen die Laguna Blanca, eine von drei Lagunen auf unserer Reise. Im warmen Wasser der Vulkanquelle stelzen hunderte Flamingos umher. Die raue Umgebung, der Wind und die Kälte die hier oben herrscht, scheinen die schönen Tiere nicht zu stören. Auch vom aufkommenden Gewitter zeigen sich die Flamingos unbeeindruckt. Während wir zurück in den Jeep steigen, um dem Unwetter zu entkommen, suchen sie geduldig weiter nach Kleintieren im Schlick der Lagune.
Nach einigen Stunden erreichen wir das letzte Ziel dieser Etappe: Das Geysirfeld Sol de la mañana. Auf dem Weg dahin haben wir die 5.000-Meter- Grenze überschritten. Die Luft hier oben ist nicht nur dünn, sondern auch beißend. Der Schwefel, der aus den qualmenden und blubbernden Löchern (sogenannten Fumarolen) entweicht, stinkt bestialisch. Der Anblick ist umso faszinierender. Wir müssen aufpassen, denn immer wieder kommen kochend heiße Fontänen aus dem Boden.
Guery möchte nicht zu lange hier oben bleiben. Zu lang ist die Rückfahrt, die nun noch vor uns liegt.
Über den Autor
Dario Jürgens wurde 1990 im niedersächsischen Hildesheim geboren und studiert Sprache und Kommunikation und Sprechwissenschaft und Sprecherziehung an der Philipps-Universität in Marburg. Er hat bereits für ein Studentenmagazin in Oslo und für eine PR-Agentur in Köln geschrieben. Nach seiner Bolivienreise Anfang 2013 hat er sich dann zum ersten Mal an einen umfangreicheren Reisebericht gewagt und freut sich besonders, über ein Land berichten zu können, dessen Landschaft und Kultur in seinen Augen kaum faszinierender sein könnte.
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